19.09.2019
oqbo Rahmenhandlung #6: Julia Ziegler
SHIDE, 2019
Papierklebeband, 36 x 85 cm
Julia Ziegler schreibt zu ihrer Arbeit:
SHIDE sind eingeschnittene und zickzackförmig gefaltete Papiere, die wie Theaterblitze zum Beispiel in shintoistischen Tempeln im Eingangsbreich hängen. In Japan sieht man sie überall – in privaten Türbereichen, an Seilen vor kleinen Altären und an großen Toren hängend, mal perfekt gefaltet, mal schon etwas ramponiert, immer haben sie einen sofortigen Wiedererkennungswert, ein Zeichen wie ein Buchstabe, und etwas Rührendes in ihrer Einfachheit.
Die ersten Shide sah ich an meinem ersten Abend in Tokio in einer zufällig entdeckten Tempelanlage. Bei 30 Grad und hoher Luftfeuchtigkeit, umgeben von ohrenbetäubendem Zikadenzirpen, nachdem ich Lichtreklamen und Kimonos, Werbeplakate, Getränkeautomaten, Speiseauslagen und spielende Kinder passiert hatte stand ich in dieser ausgedehnten Tempelanlage, die sich über mehrere Etagen erstreckte und in der unter anderem ein 3 Meter hoher goldener Buddha stand. Lampions und Girlanden hingen herum und ein großer Steinfrosch wurde von lebendigen Krähen belagert. Es gab ein gemauertes Halbrund mit zwei wasserspeienden Drachenköpfen. Darüber hingen an einem Seil vier stufenartig geometrische Papierstreifen. Im verschwindenden Licht leuchtenen die vier Formen wie etwas Immaterielles aus dem Halbdunkel, als wären sie eine aus der duftenden und lärmenden Umgebung herausgeschnittete Leere.
Eine Japanerin erklärte mir später den Gebrauch. Shide fungieren als symbolische Grenze, sie markieren den Übergang vom materiellen in den spirituellen Raum.
Zudem halten sie Schlechtes ab und ziehen Gutes an.
Im Oberlicht der Eingangstür der Galerie oqbo sind nun passend zur Eröffnung von paperfile # 15 vier Streifen angebracht, aus Papier, aber in die Fläche gebracht und daher ein Bild des Zeichens, nicht das Zeichen selbst.
Die Arbeit SHIDE im Oberlichtfenster der Galerie oqbo ist Teil des Projektes "Rahmenhandlungen", das 2019 das aktulle Programm begleitet. Bei jeder Ausstellung wird durch einen künstlerischen Eingriff im Eingangsbereich die Frage nach dem Moment des Eintretens, nach dem Einlass und dem Ausschluss thematisiert.