24.08.2020

Seraphina Lenz: Deviantes (Arbeitstitel)

Audiodeskription eines Stadtraums mit 7 Haikus

Deviantes Einladung

Im Folgenden stellen wir Seraphina Lenz's Konzept zu einer Kunstaktion am Vinetaplatz vor.

Arbeitsform und Ergebnis
  • Recherche und Textproduktion für ein Hörstück
  • Öffentliche Lesung des Hörstücks vorbehaltlich der Corona-bedingten Einschränkungen, nach Möglichkeit mit Übersetzung durch einen Gebärdensprachdolmetscher. Ein Areal auf der Swinermünder Straße wird dazu bestuhlt, der Ton wird über Lautsprecher verstärkt Wenn möglich werden Tastobjekte angeboten.. Termin: 20. oder Samstag, 27. September 2020
  • Produktion des Hörstücks als Podcast. Der Podcast sorgt für eine Verbreitung des Hörstücks über die öffentliche Veranstaltung hinaus. (abrufbar bei Kiezrollers und…?) Wer nicht kommen kann, kann ihn an jedem Ort hören, oder sich mit einem Smartphone zu einem anderen Zeitpunkt an den Vinetaplatz begeben.
  • Fotodokumentation, ein Album der Orte und Dinge.
Ziele
  • Herstellung eines barrierefreien, inklusiven, öffentlichen Events
  • Schaffen einer Begegnungsmöglichkeit von Menschen mit und ohne Behinderung und sichtbar machen der unterschiedlichen Belange
  • Anregung zum Gespräch und zur Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Stadtraum
Idee und Ablauf

In Kooperation mit Rollers e.V. entwickelt Seraphina Lenz ein Hörstück mit öffentlicher Lesung und einen Podcast für den Stadtraum am und um den Vinetaplatz. Er ist Teil eines großen und umstrittenen Stadtumbaus der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die damals fortschrittliche Städteplanung ging von der Vorstellung vielfältiger Lebenssituationen der Bewohner*innen aus. So gab es in der Freiraumplanung von 1972 Überlegungen dazu, wie verschiedene Gruppen den Ort nutzen können. Gedacht war an „ledige Arbeitnehmer und ausländische Arbeitnehmer, Behinderte und Rentner, Kinder aller Altersstufen, sowie Lehrlinge und Hausfrauen mit Kindern“  (siehe Abb.)

Diese Idee eines inklusiven Stadtraums, der Begegnungen unterschiedlicher Bürger*innen mitdachte, soll mit dem Projekt aktiviert werden. Es soll Menschen mit und ohne Behinderung zusammenbringen und eine kommunikative Begegnung ermöglichen.

Die Basis bildet eine Spurensuche. Seraphina Lenz recherchiert die aktuelle Situation am heutigen Vinetaplatz mehrere Monate lang und erkundet Spuren, die seine Nutzung ahnen lassen. Sie schaut unter Gebüsche und hört Gesprächen zu, findet Gegenstände und eine Vielfalt von Pflanzen. Durch die kaum stattfindende Pflege haben sich auch Räume gebildet, die Menschen mit Bewegungseinschränkungen nicht aufsuchen können oder wollen.  Verpasst man denn etwas, wenn man nie im Unterholz am Vinetaplatz unterwegs war?  Findet man dort nur „Müll und Unkraut“ oder haben sich hier interessante Biotope gebildet?

Bei der Spurensuche geht es um die Beschreibung beiläufiger, flüchtiger Erscheinungen, die den Stadtraum zwar ständig verändern und atmosphärisch prägen, die aber üblicher Weise nie erwähnt werden, wenn eine Stadt beschrieben wird. Es geht um schwarze Flecken auf Mauern, Stiefmütterchen, die in Ritzen wachsen, liegen gelassene Pizzaschachteln, eine gekippte Parkbank, Reste eines urban gardening Projekts. Oder um Fundstücke wie eine Bücherkiste, einen Lampenschirm und Stadtmobiliar aus den 1970ern, auf dem sich Moos gebildet hat, das aussieht aus wie Samt.

Scheinbare Nebensächlichkeiten können Wirkung entfalten. Sie haben einen Einfluss darauf, wie man den Raum wahrnimmt und bewertet. Auch wenn diesen Dingen in der Regel wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, stecken sie voller Informationen und Geschichten, die der entstandene Text vermitteln will. Damit soll auch dazu eingeladen werden, sich über den, allen zur Verfügung stehenden, Raum zu verständigen. Der Text berücksichtigt drei Ebenen eines möglichst vielfältigen, barrierefreien Hörerlebnisses. Für gehörlose Menschen ist an einen Gebärdendolmetscher gedacht.

  •  Für blinde Menschen, für die dieses Projekt zunächst entworfen wurde, soll eine detailreiche Vorstellung des Stadtraums vermittelt werden.  Für sie sind andere Informationen wichtig als für sehende Menschen. Die räumliche Orientierung spielt zum Beispiel eine große Rolle. Dazu nutzt der Text professionelle Strategien der Audiodeskription, wie sie in Hörfassungen von Filmen und sogar bei Theateraufführungen angewendet werden. Das vermittelt auch sehenden Menschen einen kleinen Einblick in die Lebenswelt blinder Menschen und gibt ihnen Gelegenheit ihr Verständnis für die Belange von Menschen mit starken Sehbehinderungen und blinde Menschen zu erweitern.
  • Die Erforschung scheinbar nebensächlicher Details kann alle gleichermaßen zu einer bewussteren Wahrnehmung und zum eigenen, individuellen „Lesen“ des Stadtraums anregen.
  •  Schließlich enthält der Text neben nüchternen Beschreibungen auch poetische Kommentare, die so genannten 7 Haikus.

Es ist ein Anliegen des Projekts, individuell unterschiedliche Möglichkeiten der Wahrnehmung zu thematisieren. Zum Beispiel: Ein blinder Mensch, der sich in urbaner Botanik auskennt, kann alles was wächst mit seinen Händen erfassen und benennen.  Dagegen kann ein sehender Mensch zwar städtische Wildkräuter visuell wahrnehmen, sie aber übersehen, weil er nichts über sie weiß. Verschlungene Wege im Park können für sehende Menschen ansprechend sein, für blinde Menschen aber die Orientierung existenziell erschweren.  So wird die Aufführung des Textes zu einer Wahrnehmungsübung für sehende und blinde Menschen, die ihre individuellen Erfahrungen auf unterschiedliche Weise mit dem Gehörten verbinden können. Für den Moment der Aufführung teilen sie einen gemeinsamen Raum, hergestellt durch das Erlebnis der Lesung.